GESCHICHTEN UND GESCHICHTE – Frank Neugebauer im Gespräch.
Lieber Herr Neugebauer – ein paar Fragen an den Autor: Stellen Sie sich doch bitte zuerst beruflich und privat dem Leser vor.
Ich wurde am 26. Juni 1968 in Brake geboren, das liegt an der Unterweser, und wohne heute in der Gemeinde Jade. Ich habe zwei Kinder und bin seit dem 24.August 2020 leider verwitwet.
Meine Eltern waren einfache Leute und hatten eine Kriegskindheit sowie eine Nachkriegsjugend mit all ihren Schwierigkeiten erlebt. Sie erzogen uns nach den Idealen der damaligen Wirtschaftswunder-Zeit, und das hieß: Die Kinder sollten es einmal besser haben. Ich hatte als Nachkömmling das Glück, weniger streng erzogen zu werden als meine Geschwister, die vielleicht ein anderes Lied singen als ich.
Ich war ein guter Schüler, vor allem in Deutsch und Physik, aber bei jedem Wechsel des Klassenlehrers fiel ich erst einmal gründlich ab. Ich konnte mich nur langsam umstellen, und das ist bis heute so. In der gymnasialen Oberstufe lernte ich meine Freunde von einer unangenehmen Seite kenne, nämlich im Konkurrenzdenken. Das war mir fremd.
Gegen Ende meiner Schullaufbahn wurde es noch einmal richtig gut. Obwohl ich mit einem Notendurchschnitt von 2,5 eher im Mittelfeld lag, schlug mich die Vollversammlung als Abschlussredner vor. Und ich hatte auch noch einen weiteren großen Auftritt. Einen Tag vorher sang ich zu vorgerückter Stunde auf dem Abiball »Sign O The Times« von Prince vor hunderten von Leuten. Das war vielleicht meine beste Zeit, yeah.
Schön, diese Erinnerungen.
Ich war dann fast zwei Jahre als Zivildienstleistender bei der Lebenshilfe.
Später studierte ich ein Semester lang Astronomie und Physik in Bonn bei zwei der bekanntesten Mathematiker Deutschlands. Mit meiner Mathematik von einem Kleinstadtgymnasium verlor ich sofort den Anschluss. Das war eine große Enttäuschung damals. Ich habe dann einen geisteswissenschaftlichen Magister in Oldenburg gemacht, das war ungleich einfacher. Gegen Ende der Studienzeit lernte ich meine spätere Ehefrau kenne. Die lange Suche hatte ein Ende, ja.
Meine Frau war achteinhalb Jahre älter als ich, und bald kamen die Kinder. Sie stehen jetzt an der Schwelle und sehen hinaus ins gelobte Land, will ich einmal sagen, nachdem ihre Mutter sie geführt hat.
Ich nahm 1996 einen ungeliebten Job bei der Post an, und den mache ich ohne Veränderung bis heute, Sortierer. Meine Frau hatte sich das Studium über den zweiten Bildungsweg erarbeitet und arbeitete dann wie ich in Teilzeit. Bereut haben wir das nie, und jetzt, nachdem sie gestorben ist, weiß ich, ja, wir haben viel Zeit miteinander verbringen dürfen! Kein Geld der Welt kann das ersetzen.
In meinem Leben habe ich viel geträumt und nachgedacht, aber ich bin bis heute pflichtbewusst und beharrlich, das widerspricht sich nicht. Karriere, Wettbewerb, Besitz, das war mir nicht wichtig, und die Mechanismen dafür habe ich nie begriffen. Ich fahre diese alten Autos und wohne in einem billigen Haus zur Miete.
Vielleicht bin aber auch ganz anders, und meine Kinder und meine Frau würden andere Worte über mich gefunden haben, kann schon sein.
Als ich anfing, einigermaßen vernünftig zu denken, konnten schon alle Familienmitglieder schreiben, Vater und Mutter und meine drei älteren Geschwister. Es war daher nur natürlich, dass ich mit fünf Jahren die großen Buchstaben der Waschmittelpackung abmalte und dachte, jetzt kann ich auch schreiben. Aus dieser Periode stammt auch mein »Menschen-Knochen-Buch«.
Ich sorgte für die Illustrationen, Gebiss, Beinknochen, Schädel und so weiter, und Mama oder meine Schwester mussten die Wörter hinschreiben. Das Buch war mit Heftpflaster geklebt und hatte sechs oder acht Seiten.
Ab der dritten Klasse beschäftigte uns die Lehrerin mit Nacherzählungen, und die durften wir als Kinder der reformfreudigen Siebziger recht frei ausgestalten. Ich erinnere mich noch, wie ich ein Gedicht in einer lautmalerischen Form umschrieb und dafür von der Klasse viel Beifall erhielt.
Ich merkte, das kann ich gut, aber in Deutsch hat es meist nur zu einer 2 gereicht, meine Aufsätze gerieten wohl manchmal zu ausufernd.
In unserer Lokalzeitung gab es eine Kinderseite, und ich dachte, das kann ich auch. Mit 12 Jahren habe ich dort meine erste Story veröffentlicht, ich glaube, es war SF, haha.
Ich blieb dann immer dran, ich schrieb SF, Fantasy, natürlich auch Lyrik, diese ganzen Sachen. Aber der Anfang, der war schon so, wie ich ihn beschrieben habe, kindliche Neugier und Nachahmung und dann kleine Schul-Erfolge.
Wer waren Ihre literarischen Vorbilder?
Mit 15, als eine mehrjährige alterstypische Fantasy-Phase begann, dachte ich, ein Ding wie den »Herrn der Ringe« hinzuklotzen, das ist schon toll. Ich hatte aber zuvor die Shannara-Bände von Brooks gelesen, das hat mir etwas die Freude an Tolkien genommen. Jedenfalls hatte ich damals genug Inspiration, um selbst Fantasy zu verfassen, aber wie das so ist, ich habe mich bei den epischen Versuchen gründlich verzettelt.
Lem fand ich damals auch super, weil er Eden geschrieben hatte, das war kühl und sachlich und doch spannend. Eden habe ich übrigens später noch zwei Mal gelesen.
Eine Zeit lang, so ab 20, wollte ich wie Peter Handke oder Peter Rosei schreiben, das habe ich auch gemacht, aber ohne jeden Erfolg, ich habe mich da total verrannt.
Ich finde Herbert W. Franke beachtlich, auch Robert Silverberg, aber nicht alles und nicht ausschließlich. Ich kann sagen, ich habe heute gar keine Vorbilder, weil ich bei fast jeder Story denke, das kann ich besser, und bei jedem Roman, der Autor findet kein Ende.
Ich mag keine langen Romane, ich finde kurze Romane viel besser.
Was fasziniert Sie an der Fantastik?
In sehr vielen fantastischen Werken agieren die Personen wie verkleidete Menschen, sonst ist an ihnen nichts Besonderes. Ich schätze Fantastik, in denen Personen auftauchen, die sich von uns gewöhnlichen Leuten im Hier und Jetzt deutlich unterscheiden, und zwar nicht durch Mummenschwanz, sondern durch eine »andere Haltung« zu den Dingen. Ein altes Schloss und ein dunkles Moor machen noch keine Gruselgeschichte aus. Ein Roman mit technischen Beschreibungen ist nicht zwingend Science-Fiction.
Was in der wahren Welt nur ein Wunsch ist, ein Leben ohne Tod, eine Welt ohne Atomwaffen und zig Themen mehr, das hat in der Fantastik schon längst Erfüllung gefunden, und wir sehen die Konsequenzen davon, wie sie in den Romanen und Erzählungen ausgestaltet sind. Das kann sehr tröstlich sein, wie in der christlichen Lehre, so ist auch in etlichen Büchern der Fantastik der Tod keine wirkliche Grenze, und das ist nur ein Beispiel unter vielen.
Nennen Sie mir doch ein paar Ihrer Lieblingsgeschichten und WARUM?
Jack Vance, »The narrow land«. (Erzählung in „Die Welt der 10 Bücher“, Ullstein 1996) Das ist eine der ganz wenigen Vance-Geschichten, die straff und binnenlogisch richtig erzählt sind. Die Welt darin ist so abseitig, von der ganzen Zeugung über das frühe Bewusstsein, die Adoleszenzphase bis hin zur bizarren und »modellhaften« Geografie, das ist sehr geglückt.
»Der steile Horizont« Heyne, 1984 (Roman: The inverted world, 1974) von Christopher Priest ist eine seltsame Geschichte in Romanlänge, die nicht nur eine bizarre Umwelt zeigt, sondern vor allem ein statisches Gesellschaftssystem, in dem die ganz große Lüge (?) immerhin über mehrere Jahrhunderte geglaubt wird.
Michael Moorcock. »Der Phoenix im Obsidian« (Deutsch 1982) – mir gefällt vor allem die These des Geworfenseins, denn so ergeht es dem Helden, er muss sich der bizarren Umwelt stellen. Das ist gute Fantasy ohne das ganze höfische Brimborium.
Tonke Dragt, »Die Türme des Februars«, Beltz & Gelberg, 2004 (De torens van februari, 1973) das ist ein fantastischer Jugendroman, den bestimmt viele kennen. Aber handelt es sich wirklich um Jugendprobleme? Jedenfalls handelt der Roman von einer Desorientierung; die Anmutung ist durchweg surreal, und das gelingt der Autorin sehr gut. Die Geschichte ist bloß ein, zwei Takte neben der Wirklichkeit!
Oder habe ich die Frage falsch verstanden, und ich soll etwas über meine eigenen Geschichten sagen? Da kann ich nur sagen, die jüngste Geschichte empfindet ein Autor oft als die beste Geschichte, und ich bilde da keine Ausnahme.
Literatur außerhalb der Fantastik – was empfehlen Sie dem Leser?
Bis vor wenigen Jahrhunderten war praktisch alle Literatur fantastisch. Und auch das, was sehr ernst gemeint war, ist heute als Fantastik entlarvt.
Ganz gut gefällt mir das satirische Büchlein von Jakob Hein, in dem er »erfundene Wahrheiten der DDR« erzählt. Das Sachbuch zum selben Thema, nämlich den Verrücktheiten in der DDR, ist das richtige Sachbuch »Das Politbüro privat«.
Ganz gut ist Fred Breinersdorfers Hammermörder, kein Krimi, sondern mehr eine Reportage und ein Psychogramm über eine grausame Verbrechensserie und den Täter. Das Buch handelt auch vom Ungleichgewicht der Mittel, für einfache Banküberfälle mordet der Täter, ein Polizist.
Peter Rosei, »Wer war Edgar Allen«, ein überaus irritierender Roman über eine Art Begegnung mit einem Fremden, geschrieben von einem »Hochliteraten«, der hier aber ziemlich »normal« schreibt. Komplex und doch sehr unterhaltsam, es scheint sich auf den ersten Blick um eine Art Krimi oder Spionagethriller zu handeln, aber es bleibt bei unzähligen Andeutungen.
Ursula Wölfel brachte damals Themen wie Scheidungskinder, Behinderten-Diskriminierung. Eigentlich ein Kinderbuch, aber in seiner Einfachheit noch heute beeindruckend.
Marie Luise Kaschnitz, »Das dicke Kind«, die Erzählerin begegnet sich selbst in einem dicken Kind, das zu ihr kommt. Sehr traurig und sehr ergreifend.
Aber eigentlich möchte ich gar nichts empfehlen. Jeder Mensch findet mit der Zeit heraus, was er gerne liest.
Können Sie beschreiben, wie Sie an eine Ihrer eigenen Kurzgeschichten herangehen? (Ist sie in Ihrem Kopf bereits fertig oder entwickelt sie sich während des Schreibens?)
In einer Geschichte gibt eins das andere. Sie läuft los, mit Fantasie geht fast alles, wenn die Stimmung gut ist. Wissen Sie, Herr Munsonius, früher, da gab es doch diese langen Nachmittage nach der Schule.
Ganztagsbeschulung und TV 24/7 waren noch nicht erfunden, recht so. Wir waren alle so um die zehn, elf Jahre alt und hatten nichts außer ein paar Büschen und Fantasie und Kraft. Plötzlich war das Gebüsch ein Wald, und in dem Wald lag ein Schatz oder ein Räuber. Der Graben dahinter wurde ein Fluss, vielleicht ein Todesfluss. Und drüben unter dem Apfelbaum wartete der Feind oder der Cowboy oder der Drache. Nils und Jörn und Sven spielten mit, und manchmal kam Tilo dazu mit seinen tollen Ideen. Oder wir zündeten am Strand ein Feuer aus Schilf an, damit die Schiffe auf der Weser uns sahen und Gold brachten. Abends um sechs Uhr kam man dann selig nach Hause. Und am nächsten Tag ging es weiter, manchmal war es gut, oft aber war die tolle Stimmung fort. Aber dann machte man neue Spiele. Alles das ist eine Metapher für die Art und Weise, wie ich schreibe.
Natürlich gab es in Kindertagen schon diese Spielverderber und Idioten, die notorischen Schreihälse oder die schwachköpfigen Kaputtmacher oder die gemeinen Schläger, die das Spiel nicht kapierten und einem mit der Faust in den Bauch boxten, einfach zum Spaß, diese Teufel. Ich habe diese Leute immer gehasst.
Als Erwachsener bin ich am Schreibtisch sicher, auch vor den Äquivalenten der früheren Schläger, den Angebern mit den großen Autos, den Politisierern, den Besserwissern, der lauten Leuten. Und so spiele ich »meine Geschichten« heute mit mehr Ausdauer als früher, manchmal sogar mit Tinte und Papier.
Ich tippe auf der Tastatur und kann auch mit einem ganz leeren Blatt anfangen, das jagt mir keine Angst ein. Aber irgendeinen Grundgedanken, den hatte ich natürlich schon vorher im Kopf. Manchmal benutze ich auch Zettel mit Notizen oder Konzeptionen. Langwierige Vorarbeiten stelle ich nicht an. Das hält mich von der eigentlichen Sache ab.
Ideen habe ich viele, aber sie variieren dann doch in gewissen Grenzen.
Die Ideen sind manchmal schon älter, zumindest dem Grundsatz nach, aber ich kann die Einfälle jederzeit aktivieren und den gefragten Bedingungen angleichen. Ich habe es manchmal unternommen, für einen Anlass zu schreiben, eine Themennummer zum Beispiel. Für Bärenklau habe ich mehrere alte Storys ziemlich radikal umgearbeitet, weil mir »der alte Kram« nicht mehr gefiel. Auch das geht.
Ich habe aber auch immer wieder neue Einfälle. Schon früh mache ich mir Gedanken über die Perspektive, ich finde eine Froschperspektive reizvoll, weil ich sozusagen vom Boden der fremdartigen Tatsachen aus berichte. Das ist ein ganz toller Effekt!
Nein, meine Geschichten sind nicht fix und fertig im Kopf, so als könnte man sie dort abschreiben. Vielmehr kenne ich den Rahmen und den Ort der Handlung und die Zeit, und darauf wende ich die Perspektive an, das ergibt dann bereits eine Menge Text. Ich glaube, die Wahl der richtigen Perspektive, das ist der Schlüssel.
Wichtig ist mir, keine »bloß als Science-Fiction verkleidete« Story zu schreiben, also irgendein Alltagsgetue von heute im Gewande der Zukunft. Science-Fiction muss schon etwas bringen, was sonst absolut nicht möglich wäre, das ist mein Vorsatz.
Ich recherchiere wenig neu, weil ich ja kein Sachbuch schreiben will. Gut recherchierte Bücher sind oft literarisch schlecht, das gilt vor allem für historische Romane, die oft echte Professorenromane sind. Außerdem kann ich auf meinen Verstand setzen, der groben Unfug verhindert.
Wenn ich eine Story weit entwickelt habe, versuche ich, weitere Wendungen einzubauen. Denn ich denke, viele Autoren gehen nicht bis an die Grenze. Ich erinnere mich an eine meiner Storys, da kommt der Sohn aus dem Krieg heim, aber der Sohn ist in Wirklichkeit ein getarnter Feind, die Mutter aber akzeptiert den falschen Sohn anstelle des gefallenen eigenen Sohnes. Das ist dann eine dynamische Geschichte!
Ich habe leider auch Fragmente produziert, etwas angefangen und dann weggelegt. Wer weiß, wozu das gut war?
Warum schreiben Sie eigentlich? Was bedeutet das für Sie?
Ich bin ungesellig und habe gerne meine Ruhe.
Unter Druck kann ich praktisch nicht schreiben, aber wenn die nötige Ruhe gewährleistet ist, fliegen mir die Einfälle nur so zu. Ich schreibe langsam, aber beharrlich. Das sind ganz gute Voraussetzungen.
Meine Geschichten erzähle ich mir selbst, das ist mein Eindruck. Denn für mich sind sie interessanter als das meiste, was ich zwischen fremden Buchdeckeln finde. Ich habe keinen missionarischen Eifer, und ich könnte mir vorstellen, rein für die Schublade zu schreiben. Natürlich ist es ganz interessant, sich gedruckt zu sehen. Gedruckt sollte es schon sein, ein eBook bedeutet mir sehr wenig.
Mir kommt es mehr darauf an, meine Ideen zu konservieren. Ob die Spur, die ich hinterlasse, heute oder morgen gefunden wird, ist mir ziemlich egal.
Lieber Herr Neugebauer, ich danke für diesen kleinen persönlichen Einblick in Ihre Welt.
C, 2021 by Edition Bärenklau – Fotos by Frank Neugebauer und Edition Bärenklau 2021
Frank Neugebauer - der Autor im Jahre 2016
...und hier im Orwell'schen Jahr
Die Familie Neugebauer im Jahre 2005
Der Autor ca. 2013
Der Autor...heute.